Bildung im Wandel – Ein Kommentar

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Die rasante technische Entwicklung unserer Zeit führt zu immer umfassenderen Auswirkungen auf die Gesellschaft, oft schneller als das Bildungssystem sich an die neuen Möglichkeiten und Werkzeuge anpassen kann. Dieses Ungleichgewicht führt zu einer Überforderung von Lehrkräften und Lernenden, da diese Schwierigkeiten haben, mit dem Tempo der Veränderungen Schritt zu halten. Der freie und niedrigschwellige Zugang zu KI-basierten Anwendungen stellt das Bildungswesen aktuell vor besondere Herausforderungen. Das Hessische Kultusministerium hat eine Handreichung entwickelt, um Lehrkräfte, insbesondere an Schulen, dabei zu unterstützen, Schüler:innen auf die digitalen Herausforderungen vorzubereiten: https://digitale-schule.hessen.de/unterricht-und-paedagogik/handreichung-kuenstliche-intelligenz-ki-in-schule-und-unterricht

In der Handreichung wird darauf hingewiesen, dass schulische und außerschulische Aufgaben von jeher dem Anspruch genügen müssen, für die Leistungsbeurteilung die Eigenleistung der Schülerinnen und Schüler von Fremdleistungen abgrenzen zu können. (Seite 12)
Als Konsequenz wird geschlussfolgert: „Nutzt eine Schülerin oder ein Schüler trotz konkretem Hilfsmittelausschluss oder ohne transparente Quellenangabe eine KI-Anwendung zur vollständigen Erledigung einer gestellten Aufgabe, so ist dies als Täuschungsversuch zu behandeln.“ (Seite 13)

Menschliche Leistungen verschmelzen jedoch immer mehr mit den digitalen Möglichkeiten unserer Zeit. Dieser Prozess war noch nie so deutlich, wie in der aktuellen Debatte um den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) in der Bildung. Der Nachweis, ob zur Lösung einer Aufgabe KI verwendet wurde, kann in den meisten Fällen nicht zuverlässig erbracht werden. Wenn der gesamte Text einer Aufgabe mit einer KI geschrieben wurde, dann ist möglicherweise ersichtlich, dass die Textqualität weit über dem Leistungsniveau der lernenden Person liegt oder Textfragmente auf den Einsatz von KI schließen lassen. Wenn die KI allerdings „nur“ zum Lösen von Problemen und für Transferleistungen Anwendung findet, während der Text selbstständig verfasst wird, kann die Verwendung von KI nicht mehr nachgewiesen werden. Und wenn der Einsatz von KI nicht nachgewiesen werden kann, wie kann das Arbeiten mit KI dann reguliert werden?

Die Rolle von Bildung geht weit über die Vermittlung von Fachwissen hinaus. Es geht darum, sowohl fachliche Expertise als auch übertragbare Fähigkeiten – “Transferable Skills” – zu entwickeln. Diese Fähigkeiten, wie kritisches Denken, Problemlösung, Zusammenarbeit und Kommunikation, sind für den Erfolg in vielfältigen Kontexten unerlässlich, einschließlich Arbeitsmarkt und Forschung.

Ein Kernelement von Bildung ist die Transferleistung. Wir haben ein Prinzip oder einen Sachverhalt verstanden, wenn wir ihn auf neue Kontexte übertragen können. Wenn wir also zeigen, dass wir die zugrundeliegenden Prinzipien nicht nur nachvollziehen, sondern sie auch frei anwenden und modellieren können. Die aktuelle Generation generativer KI beherrscht diese Fähigkeit in so umfassender und präziser Art und Weise, dass wir nicht mehr sicher sein können, ob eine entwickelte Idee aus den neuronalen Netzen eines Menschen oder einer Maschine stammt. Im besten Falle ist es eine produktive Mischung aus beidem. Eine genaue Trennung und damit differenzierte Beurteilung menschlicher „Leistung“ ist unmöglich. Um sich trotz der rasanten Entwicklung an Prozessen zu orientieren und nicht nach statischen Lösungen zu suchen, die Wochen später wieder obsolet sein können, muss das Bildungssystem proaktiv mit der sich stetig entwickelnden Technik umgehen. Wir müssen lernen, uns kontextbasiert auf neue Szenarien und Anforderungen einzustellen.

Im Kontext von KI stehen wir auch vor der Frage, wie wir sicherstellen können, dass Schüler:innen und Studierende tatsächlich die gewünschten Fähigkeiten erwerben, wenn KI einen Teil ihrer Lernprozesse unterstützt. Wie können wir feststellen, ob eine Leistung tatsächlich auf die Anstrengungen und das Verständnis der lernenden Person zurückzuführen ist und nicht auf die Hilfe, die sie von der KI erhalten hat? Ein stärkerer Fokus auf den Prozess könnte helfen, die Rolle von KI beim Lernen zu klären. Indem wir uns darauf konzentrieren, wie Menschen lernen und Probleme lösen, anstatt nur das Endprodukt ihrer Arbeit zu beurteilen, könnten wir ein besseres Verständnis dafür bekommen, welche Rolle KI spielt und wie Schüler:innen und Studierende ihre Fähigkeiten tatsächlich erwerben und anwenden.

Wenn die Abschlussnote der wichtigste Faktor ist, der die eigene Leistung für den Arbeitsmarkt widerspiegelt, ist die Motivation hoch, alle zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um konkurrenzfähig zu bleiben. KI wird daher mit aller Wahrscheinlichkeit verwendet werden, um in Prüfungssituationen eine möglichst gute Note zu erreichen. Angenommen die Beurteilung der eigenen Leistung über Noten würde wegfallen, wären die eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen das Einzige, was in einer Konkurrenzsituation Relevanz hat. Traditionelle Bewertungsmethoden basieren meist auf einer quantitativen Einschätzung der Leistung, in Form von Noten, die jedoch nicht immer in der Lage sind, die Vielfalt an Fähigkeiten und Kompetenzen der lernenden Person abzubilden. In diesem Zusammenhang kann die Möglichkeit diskutiert werden, Noten durch individuelle Kompetenzprofile zu ergänzen oder zu ersetzen, die einen differenzierteren Einblick in den Kenntnisstand der Lernenden bieten könnten. Kompetenzbasierte Bewertungssysteme können einen Ansatz bieten, Lernziele aus eigener Motivation zu erreichen, da die Konkurrenzfähigkeit vor allem durch die individuellen Kompetenzen und Fähigkeiten erreicht wird. Eine Kombination aus dokumentierter Projektarbeit, Peer-Einschätzung und E-Portfolios könnte helfen, ein vollständigeres Bild der Fähigkeiten von Lernenden zu erreichen und eine detaillierte Leistungseinordnung vorzunehmen.

Es ist eine Diskussion, die wir führen müssen, wenn wir sicherstellen wollen, dass unser Bildungssystem den Anforderungen unserer sich schnell verändernden Welt gerecht werden soll.

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